„Ich wundere mich, dass keiner Farbbeutel wirft“

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Mit leichter Verspätung möchte ich auf ein langes und sehr interessantes Interview in der taz vom vergangenen Montag hinweisen. Auf einer Doppelseite wird der ehemalige Baustadtrat von Prenzlauer Berg Matthias Klipp befragt.

taz: Nach der Wende waren Sie Baustadtrat in Prenzlauer Berg. Der WBA wurde als Initiative „Wir bleiben alle“ wiedergegründet. Trotzdem gilt der Bezirk heute als Musterbeispiel für Verdrängung und Gentrification. Sind Sie und die WBA-Initiative gescheitert?

Klipp: Nein, das würde ich so nicht sehen. Zu meiner Ehrenrettung muss man sagen, ich war ja nicht 20 Jahre Baustadtrat, sondern die ersten sechs. In dieser Zeit haben wir soziale Sanierungsziele definiert, Mietobergrenzen beschlossen, Sanierungsgebiete ausgeweitet, Leerstand und Zweckentfremdung von Wohnraum bekämpft. Damit und mit der kritischen Bürgerbeteiligung, auch mit der Tatsache, dass in Prenzlauer Berg sehr viele öffentliche Fördermittel eingesetzt worden sind, haben wir verschiedene Entwicklungen abgeschwächt, die sonst mit voller Wucht Einzug gehalten hätten.

taz: Sie haben die Gentrifizierung lediglich verzögern können?

Klipp: Eine gewisse Verzögerung, aber es gibt immer noch auch genossenschaftliche Projekte, die von mir unterstützt worden sind. Wir haben die besetzten Häuser eins nach dem anderen legalisiert. Die sind bis heute ganz wichtige Projekte innerhalb der Kieze. Man muss auch räumlich differenzieren: Am Kollwitzplatz hat es ganz sicher Verdrängung und Vertreibung gegeben, in anderen Gebieten verläuft die Entwicklung eher normal bis behutsam.

taz: Könnten Sie sich mit Ihrer Familie an der Oderberger Straße noch eine Wohnung leisten?

Klipp: Hier vielleicht, am Kollwitzplatz nicht mehr, weil es da überhaupt keine Mietwohnungen mehr gibt, sondern nur noch Eigentumswohnungen.

taz: Es gibt inzwischen wieder linke Gruppen, die mit dem Slogan „WBA – Wir bleiben alle“ gegen Gentrification kämpfen, teils sehr radikal. Wundert Sie das?

Klipp: Ich staune eher, wie wenig gegen Projekte wie das Palais Kolle Belle oder Marthashof protestiert wird. Ich krieg schon das Kotzen, wenn ich die Werbesprüche sehe. Dass es nicht mal mehr jemanden gibt, der einen Farbbeutel wirft, das finde ich erstaunlich.

taz: Es werden in letzter Zeit viele Autos angezündet …

Klipp: Ich krieg auch einen dicken Hals, wenn ich am Arnimplatz die ersten Audi Q7 oder Mercedes R-Klasse stehen sehe, die gleich zwei Parkplätze besetzen. Aber ob mit dem Anzünden von Autos ein organisierter Prozess zustande kommt, der sich wirklich mit den Akteuren der Verdrängung auseinandersetzt, bezweifle ich. Die Autos sind versichert, das führt also eher dazu, dass der Ausstoß dieser Marken noch künstlich erhöht wird.

taz: Was wäre aus Ihnen geworden, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?

Klipp: Dann hätten, wenn ich meiner Stasiakte glaube, Ende 1989, Anfang 1990 die Ansammlungen meiner Verfehlungen dazu geführt, mich nach den Paragraphen 106 und 107 des DDR-Strafgesetzbuches zu verhaften und zu verurteilen. Ich wär sicherlich im Zuchthaus gelandet, gegen meinen Willen freigekauft worden und heute in der Bundesrepublik.

taz: Im Westen sind Sie so oder so.

Klipp: Nein, ich bin nicht im Westen. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen denjenigen, die verstehen, dass Eigentum auch Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit ist und denjenigen, die das nicht begreifen wollen. Da ist meiner Meinung nach der Ansatzpunkt für die politischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre.“

Das ganze Interview in der
taz: „Ich wundere mich, dass keiner Farbbeutel wirft“